Gedenkstätte Mainz

Gedenkstätte Mainz

Im Jahr 2012 wurde eine Gedenkstele für die deportierten Sinti und Roma im Mainzer Stadtzentrum errichtet. Sie befindet sich in räumlicher Nähe zur ehemaligen Birnbaumgasse, wo neun der Deportierten bis 1940 gelebt hatten.

Altenauergasse

  • Lage

    Altenauergasse 7-9
    (ehemals Birnbaumgasse)
    55116 Mainz

  • Einweihung

    16.Mai 2012

Beschreibung: Die Erinnerungsstätte befindet sich im Mainzer Stadtzentrum in der Altenauergasse/Ecke Hintere Christofsgasse und ist Teil der städtischen Hinweistafeln „Historisches Mainz“. Der Standort befindet sich in unmittelbarer Nähe zur ehemaligen Birnbaumgasse, wo neun der deportierten Mainzer Sinti bis 1940 gelebt hatten. Das Erinnerungszeichen besteht aus einer schwarzen, freistehenden Stele, auf der eine 96cm lange Inschriftentafel mit folgendem Text angebracht ist:

„Der Rassenwahn der Nationalsozialisten machte auch vor den in Mainz lebenden Sinti nicht halt. In der Nacht zum 16. Mai 1940 wurden 107 von ihnen deportiert, darunter 61 Säuglinge, Kinder und Jugendliche sowie 46 Frauen und Männer. Die meisten verschleppte man zusammen mit Sinti aus dem übrigen Rheinhessen und aus der Pfalz in das damals von deutschen Truppen besetzte Polen. Dort mussten die als ‚rassisch minderwertig‘ diffamierten Sinti unmenschliche Zwangsarbeit leisten. Viele der Deportierten starben vor Erschöpfung und Hunger, sie wurden erschossen oder in den Gaskammern des sogenannten Zigeunerlagers Auschwitz-Birkenau ermordet. An den Kindern und Jugendlichen führte man grausame und menschenverachtende medizinische Versuche durch. Nur wenige der Mainzer Sinti überlebten den Terror der NS-Diktatur.“

NS-Geschichte Mainz: In der Nacht des 16.Mai 1940 begannen in Mainz und anderen Städten die Verhaftung von Verfolgten aus „rassischen Gründen“. Zum ersten Mal wurden ganze Familien durch die Nationalsozialisten deportiert. Zu diesen Verfolgten aus „rassischen Gründen“ gehörten auch 97 Sinti und Roma. Die Sinti-Familien wohnten überwiegend in der Altstadt, genauer in der Fischergasse 8, in der Birnbaumgasse. 7, im Kirschgarten 27, in der Wallstraße 40, in der Welschnonnengasse 8, in der Hinteren Bleiche 17, im Raupelsweg 22 1/10, in der Lyzeumsgasse 2 1/10, in der Rheinallee 85 in der Gaustraße 34 und im Mainzer Weg 25 in Mainz-Kostheim wohnten.

 In der angesprochenen Nacht wurden die Familien um Mitternacht zuhause abgeholt und anschließend im Polizeipräsidium in der Klarastraße festgehalten. Dort bekamen sie einen Stempel auf den Arm mit einer Nummer, und einen neuen sogenannten „Zigeunerausweis“ ausgestellt. Am nächsten Tag wurden die Mainzer Sinti und Roma zusammen mit anderen Menschen aus der Pfalz in das „Sammellager“ Hohenasperg, und von dort aus in die Konzentrations- und Vernichtungslager im besetzten Polen deportiert. Der überwiegende Teil der Mainzer Sinti und Roma wurde dort ermordet.

 

Zeitzeugenberichte:

Im Kirschgarten 27 lebten die Familie Lehmann, die Familie Berger und die Familie Winter. Insgesamt wurden 23 Personen aus dem Kirschgarten 27 deportiert. Aus dem Zeitzeugenbericht des Überlebenden Wilhelm Lehmann lässt sich ein Teil der Ereignisse rekonstruieren. Wilhelm, 1940 11 Jahre alt, lebte mit seinen Eltern, 10 Geschwistern und anderen Verwandten dort. Sein Vater und sein älterer Bruder Franz waren bereits 1938 in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, jedoch zunächst wieder entlassen worden. Danach war die Familie von Frankfurt nach Mainz gezogen, wo der Vater in einer Fabrik arbeitete.

Wilhelm Lehmann berichtete, dass die Familie in Polen zunächst in ein Lager in der Nähe von Treblinka gebracht wurde. Später wurden sie in verschiedene andere Ghettos und Konzentrationslager deportiert. Die jüngeren Gefangenen mussten dort Zwangsarbeit leisten, die Älteren und Kranken wurden umgebracht. Die Jüngeren wurden auch gezwungen, Gräber für die Ermordeten zu schaufeln. Wilhelm Lehmann sollte Anfang 1945 ebenfalls ermordet werden, das Lager wurde jedoch vorher von russischen Soldaten befreit.

Ein weiterer Zeitzeugenbericht stammt von Augustine Steinbach (geb. Reinhardt). In der Hinteren Bleiche 17 wohnte Augustine seit 1938/39 mit ihrer Mutter und ihren beiden Geschwistern, nachdem sie zunächst in Bad Hersfeld aufgewachsen war. Steinbach berichtet, dass die meisten Hausbewohner:innen ihnen gegenüber freundlich eingestellt war. In der Schule seien die Lehrerrinnen und Lehrer mit steigendem Einfluss der Nationalsozialisten immer feindseliger geworden.

Ein Beamter der Kriminalpolizei hatte Augustine Steinbachs Stiefvater bezüglich der bevorstehenden Deportationen vorgewarnt, was der Stiefvater jedoch nicht glauben wollte. Kurz darauf kam er ins Krankenhaus, wo Augustine ihn das letzte Mal sah. Kurz darauf wurde die restliche Familie verschleppt. Augustine und andere Kindern hatten ihren Schulranzen mit nach Asperg und nach Polen genommen, unwissend, was ihnen dort bevorstand.

Entstehungsgeschichte: Die Initiative zur Errichtung der Gedenkstätte geht auf die Mainzerin Hildegard Coester zurück. Nach einem Besuch der Ausstellung „Zug der Erinnerung“ und die persönliche Auseinandersetzung mit den Schicksalen verfolgter Kinder machte es sich Coester zur Aufgabe, in Mainz für ein sichtbares Zeichen der Erinnerung an die deportierten Sinti und Roma einzustehen. Im Januar 2012 forderte sie den Ortsbeirat Altstadt auf, sie bei diesem Vorhaben zu unterstützen. Dieser stimmte prinzipiell zu, warf aber die Frage der Finanzierung im Raum. Hildegard Coester reagierte engagiert und überzeugt, wie sie in einem Zeitungsbericht der Mainzer Allgemeinen Zeitung 2013 schilderte: „Die Kosten trage ich selbstverständlich, weil jeder fordern kann. Aber wenn ich fordere, muss ich auch beitragen.“ Durch Coester und mehrere Mitglieder des Ortsbeirates, die ihrem Beispiel folgten, wurde der Bau der Gedenkstele möglich.

Der Text der Inschrift entstand in Abstimmung zwischen dem Landesverband Deutscher Sinti und Roma Rheinland-Pfalz. Die Einweihung wurde bewusst auf den 16.Mai 2013, den 73.Jahrestag der Mai-Deportationen. Bei der Feierlichkeit, die von Mitgliedern des Philharmonischen Vereins der Sinti und Roma musikalisch begleitet wurde, würdigte der Vorsitzende des Landesverbandes Jacques Delfeld den außergewöhnlichen Einsatz Hildegard Coesters, erzählte persönliche Geschichten der deportierten Sinti und Roma und forderte zu gesellschaftlichem Engagement gegen Rassismus auf. Das Schlusswort hatte Hildegard Coester persönlich: „Wer die Augen vor der Vergangenheit schließt, wird blind für die Gegenwart.“